In den letzten Jahren haben einige wenige, medial bemerkenswert präsente und dem "Neuen Atheismus" nahestehende Biowissenschaftler das Deutungsmonopol für "Leben" beansprucht. Der damit verbundene Absolutheitsanspruch wird in der Regel naturwissenschaftlich begründet: Prinzipiell könne eine ontologisch-naturalistische Biologie das Leben vollständig erklären (auch wenn selbstverständlich bei weitem noch nicht alle Details bekannt sind). Eine vollständige Erklärung umfasst ausdrücklich die ausschließlich biologische Herleitung ethischer Maßstäbe.

Im Jahrhundert der Biowissenschaften muss unsere Gesellschaft zahlreiche ethisch zu begründende Entscheidungen darüber treffen, wie biologisches Wissen angewendet wird. Deshalb wäre ein naturwissenschaftlich schlüssig begründbares Deutungsmonopol der Biologie für "Leben" nicht nur von akademischer Bedeutung.

Naturwissenschaftliches Wissen weist zu jedem Zeitpunkt zahlreiche Lücken auf, von denen erfahrungsgemäß viele durch weitere Forschung geschlossen werden. Allerdings entsteht zuweilen der Eindruck, biologische Phänomene seien grundsätzlich bereits erklärt, auch wenn dies der Datenlage gar nicht entspricht. In dieser Arbeit werden einige ungeklärte Probleme und Grenzen biologischen Wissens angesprochen, die möglicherweise nicht nur temporärer, sondern fundamentaler Natur sind und damit prinzipielle Erkenntnisgrenzen der empirischen Biologie markieren könnten.

In diesem Sinn wird ein Teilbereich des postulierten Übergangs von Nicht-Leben zu Leben detailliert diskutiert, denn wer "Leben" letztlich erklären will, muss auch sagen können, woher es kommt. Im Kern geht es um die Frage, ob und wie biologische Information – das zentrale Kennzeichen des Lebens – durch Naturprozesse entstehen kann. Als konkretes Beispiel dient die grundsätzliche Frage der Entstehung eines minimalen Sets von biologisch funktionalen, aufeinander bezogenen Proteinen unter präbiotischen Bedingungen, die eine einfachste Urzelle hätten bilden können. Die Ausführungen konzentrieren sich auf zwei Fragen: (i) Wie viele Proteine waren für eine primitivste Urzelle mindestens erforderlich und (ii) wie hoch ist der Anteil funktionaler Proteine im Sequenzraum und damit die Chance, dass solche Sequenzen unter präbiotischen Bedingungen entstehen?

Als Ergebnis wird formuliert, dass experimentelle Daten den Ursprung der für eine Urzelle charakteristischen biologischen Information auf der Ebene funktionaler Proteine bisher nicht plausibel machen konnten. Ob dieses fundamentale Problem der Evolutionsbiologie künftig eine Lösung finden wird, oder ob die Entstehung des Lebens eine grundsätzliche Erkenntnisgrenze der empirisch arbeitenden Biologie markiert, kann derzeit aber nicht entschieden werden.

Ein naturalistisches Deutungsmonopol von "Leben" ist damit nicht durchgängig begründbar. Die diskutierten Wissenslücken können aber im Gegenzug auch nicht als naturwissenschaftliche Argumente für eine theistische Weltsicht dienen.

Autor

Prof. Dr. Siegfried Scherer

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