Mir liegt als Philologen, als einem, der sich eine gewisse Kenntnis von „Literatur“ angeeignet hat, hier vor allem daran, festzuhalten, daß, wenn wir die synoptischen Evangelien lesen, wir gar nicht anders können als gefangen zu werden von der hier vor uns stehenden Weltfülle. Die damalige Zeit steht vor uns, ebenso die Natur, die Landschaft Palästinas, das Galiläische Meer, die Orte an der Küste bis jenseits des Jordans, auch Nazareth mit seiner steilen Felswand. Wir sehen vor uns, wenn wir es nur einfach genug lesen, wie Jesus dahin und dorthin wandert – eine Situation, die man mißversteht, wenn man das häufig wiederkehrende „auf dem Wege“ – („auf dem Wege“ werden die wichtigsten Worte gesprochen oder Taten getan!) – nur als literarische Floskel faßt, wo doch gerade dieses das Leben Jesu ausmacht; seine Wege durch Galiläa und darüber hinaus, bis schließlich auf den Weg, auf den alles hinausläuft und von dem er sich nicht abhalten läßt, von Jericho hinauf nach Jerusalem. Ich kenne im Bereich der Geschichtsschreibung, der Biographien und der Dichtung kaum etwas, wo in einem derart kleinen Bereich eine so gewaltige Weltfülle vor mich hintritt. Was sind das alles für Landschaften, was sind das für Gestalten, besonders in den Gleichnissen, aber auch sonst, was sind das für Situationen, wie ist die ganze Welt in diesen wenigen Blättern da! Man spricht von solcher Weltfülle bei Homer als Dichter, mit Recht; und zwar beruht seine Weltfülle auf der Wirklichkeit. Keine Rede davon, daß er sich das nur ausgedacht hat! Man kann eine solche Weltfülle etwa auch bei Platon beobachten, obgleich er Philosoph ist, aber sie ist auch da in seinen Dialogen; bei Shakespeare kennt man diese Weltfülle und wohl auch bei Dante, bei Goethe. Aber sonst ist das ganz selten, und das, was ich eben nannte, sind meistens große Werke, hier sind es wenige Seiten. Ich behaupte, daß diese Weltfülle ein Problem ist. Sie ist doch hineingekommen in die Evangelien – wie ist sie hereingekommen, die Konkretheit der einzelnen Gegenstände? Ich behaupte, daß die konkrete Weltfülle in den synoptischen Evangelien ein theologisches Problem ist, das freilich näher zu fassen ich den Theologen überlassen muß. Ein Hinweis wäre gegeben in der Apostelgeschichte, wo die Neuberufung des Matthias als Apostel an die Bedingung geknüpft wird, daß ein Zeuge der Auferstehung des Herrn mit den anderen Jüngern einer von den Männern sein müsse, die bei uns gewesen sind in der ganzen Zeit, in der der Herr Jesus bei uns aus- und eingegangen ist, angefangen von der Taufe des Johannes bis an den Tag, an dem er von uns genommen wurde (Apg 1, 22 f.). Das heißt, die unmittelbare Gegenwart bei dem Leben des historischen Jesus ist für die Urapostel die Grundbedingung ihres Apostelseins gewesen.
Autor
Prof. Dr. Wolfgang Schadewaldt