30.11.2010

Mit dem Stichwort „neue Religiosität“ wird auf den Vorgang hingewiesen, daß Modernisierungsprozesse in westlichen Gesellschaften nicht nur durch fortschreitende Säkularisierungstendenzen bestimmt sind, sondern auch durch die Ausbreitung einer häufig unbestimmten Religiosität, die sich selbst als „dogmenfrei“ versteht und überaus individuell geprägt ist. Ohne Übertreibung kann gesagt werden, daß dabei das, was im Zuge neuzeitlicher Aufklärung als Magie oder Aberglaube bezeichnet wurde, eine neue Renaissance erfahren hat. Mit dem Schwinden eines bewußt gestalteten Glaubens breiten sich offensichtlich nicht nur Indifferenz und religiöse Gleichgültigkeit aus, sondern auch eine archaische Religiosität, die keine Scheu kennt vor Astrologie, Okkultismus und Spiritismus und die offen ist für die Aufnahme von Traditionen, Weltanschauungen und religiösen Praktiken und Ritualen aus unterschiedlichen Religionen. Ein wichtiger Bestandteil dieser neuen Religiosität ist eine überaus facettenreiche und alternativ geprägte Heilungspraxis, die sich in deutlicher Distanz zur modernen Medizin begreift. Zwar gibt es in den hiesigen Kirchen inzwischen respektable Versuche, neue Zugänge zum Heilungsauftrag des Evangeliums zu entdecken. Vielfach ist das Thema „Heilung“ aus dem Kontext christlicher Glaubenspraxis jedoch ausgewandert und Gegenstand säkularer Medizin und Therapie geworden. Gleichzeitig ist die Heilungsthematik in der alternativen Religionskultur der westlichen Welt allerdings beherrschend. Prospekte und Werbezettel laden ein zur Heilung durch den Geist, zur Heilung durch Farben, zur Heilung aus früheren Leben (Reinkarnationstherapie), zur Heilung durch die Heilkraft der Gedanken, zu heilsamen Trance-Ritualen. „Geistiges Heilen“ ist ein wichtiges Schlagwort, und das Interesse an der eigenen Heilung ist für viele das entscheidende Tor des Eingangs in die vielfältigen Ausprägungen neuer Religiosität.

Autor

Dr. Reinhard Hempelmann

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