Das Wertethema steht heute in der Öffentlichkeit, in Politik und Massenmedien ganz obenan. Dies ist ein Zeichen für eine gesellschaftliche Orientierungskrise. Als der Wertbegriff in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in die Philosophie eingeführt wurde – insbesondere durch Rudolph Hermann Lotze (1817–1881), Franz Brentano (1838–1917) und vor allem von Friedrich Nietzsche (1844–1900) – geschah dies ebenfalls aufgrund einer Krise. Damals schien die wissenschaftlich-technische Revolution, begründet in der empirischen Naturwissenschaft, alle traditionellen Orientierungsmuster mit sich fortzureißen. Denn die überlieferten Ordnungen beruhten auf Weltanschauungen ideeller oder religiöser Art. Der wissenschaftlich-technische Fortschritt hingegen, so glaubte man damals, hat allein Fakten zur Grundlage und richtet sich ausschließlich an ihnen aus. Also müssen spekulative oder religiöse Sichtweisen entfallen. Die Wissenschaft jedenfalls, so lautete die Forderung, hat wertfrei zu sein. Da der Mensch jedoch sowohl in der Wissenschaft wie im täglichen Leben zu Entscheidungen gezwungen ist und Kriterien für diese Entscheidungen nötig sind, sah sich die philosophische Ethik aufgrund der Trennung von Fakten und Wertungen genötigt, eigene Wertlehren zu entwickeln.

Autor

Prof. Dr. Dr. Rainer Mayer

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