In den westlichen Gesellschaften gilt die Toleranzforderung weitgehend als selbstverständlich, oft wird sie aber in oberflächlicher Weise erhoben: Toleranz wird dabei erstens verwechselt mit Indifferenz, also mit Gleichgültigkeit und Mangel an eigener Überzeugung ... Eine weitere Wurzel oberflächlicher Toleranzforderung geht auf die fortschreitende Individualisierung der Lebensverhältnisse zurück. Jeder soll tun und lassen können, was er will ... Eine dritte oberflächliche Form von Toleranzforderung begnügt sich mit dem Formalismus einer abstrakten Idee. Das Motto heißt dann: Was im einzelnen geglaubt wird, ist nicht entscheidend, Hauptsache, daß ein Mensch sich für etwas einsetzt. Verallgemeinerungen im Sinne dieses Formalismus lauten etwa: „Wir glauben ja doch alle an denselben Gott!“ oder: „Der gute Wille ist ausschlaggebend!“ Eine Kommunikation über das, was wahr, gültig und gerecht ist, fällt aus. Auch hier wird somit ein Defizit als Tugend ausgegeben. Der Toleranzbegriff als solcher ist im Abendland so positiv besetzt, daß selbst die drei genannten defizitären, „billigen“ Toleranzverständnisse positiv eingeschätzt werden. Man meint, oberflächliche Toleranz sei besser als keine Toleranz. Dabei wird jedoch übersehen, daß oberflächliche Toleranz der Intoleranz den Weg bereitet. Man trifft häufig auf dieses Phänomen. Beispielsweise werden in Gremien alle Meinungen „tolerant“ angehört, dann aber wird die Entscheidung im Sinne derer getroffen, die die Macht haben. Das tolerante Anhörungsverfahren diente mithin nur zur Verschleierung dieser Machtverhältnisse.

Autor

Prof. Dr. Dr. Rainer Mayer

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